Wilder

Barbar

Leben

Gestalt

Wilder

Barbar

Leben

Gestalt

Von Wilden & Barbaren

Von Wilden & Barbaren

01 – Schillers Triebtheorie

Schillers Mensch trägt zwei Grundtriebe in sich, die ihn beherrschen und deren Vorhandensein ihn zugleich als Mensch definiert. In ihm wirken Sinntrieb und Formtrieb. Diese Polarität, die Schiller das erste Mal in seinem 12. Brief genau benennen wird, zieht sich als roter Faden durch das gesamte Werk der Briefe über die ästhetische Erziehung. Nach und nach deckt der Dramatiker immer neue Wesensmerkmale der Triebe auf, entfaltet und präzisiert allmählich ihre Eigenschaften und Wirkungsweisen, bis sich endlich ein dichtes Bild der beiden Kräfte ergibt, die den Menschen konstituieren. Diese in ihren Grundzügen von Fichte entlehnte Trieblehre[27] zeigt in einem anderen Grad der Vergrößerung auf, was die Staatsverwandlung auf gesellschaftlicher Ebene bisher unmöglich machte. Zugleich erarbeitet Schiller mit seiner Beschreibung der entgegengesetzten Triebe die Grundlage für deren spätere Versöhnung im Zustand der ästhetischen Erfahrung.

Der Sachtrieb, der im Verlauf der Briefe wahlweise auch als Stofftrieb, Naturtrieb oder Sinntrieb[28] in Erscheinung tritt, beschäftigt sich mit der materiellen Dimension des Menschen. Er ist für die sinnlichen Empfindungen zuständig und strebt nach dem Erhalt der rein tierischen Existenz als Lebewesen. Damit stellt er zugleich die Bedingung für alles höhere Streben erst zur Verfügung. Der Sachtrieb sichert das leibliche Fortbestehen als Organismus in der physischen Welt und passt so im politischen Kontext mit dem Begriff des nackten Lebens zusammen.[29] Auch ist der Sachtrieb der Zeitlichkeit unterworfen. Seine Neigungen zielen auf den konkreten Nutzen ab und fallen den sich stets zufällig wandelnden Umständen der Natur entsprechend verschieden aus, statt einem ewigen Gesetz zu folgen. Daher ist der Sachtrieb auch amoralisch.

Der Formtrieb steht für die geistigen Fähigkeiten des Menschen, der sich als Animal rationabile erst durch die ihm eigene Begabung zur Vernunft von der übrigen Tierwelt abgrenzt. Der Formtrieb ist überzeitlich, indem er versucht, ewige Wahrheiten mit objektiver Gültigkeit zu erschließen, zu denen für Schiller auch die moralische Wahrheit zählt. Wo der Sachtrieb den Umständen entsprechend verschieden urteilt und den fremden Gesetzen von Natur und Zeit unterworfen ist, wirkt der Formtrieb selbst gesetztgebend. Er strebt nach allgemeinen Prinzipien, durch die sich alle einzelnen Fälle ausnahmslos ordnen lassen. Sein Urteil erfolgt a priori.

Nun ist der Mensch auf beide Triebe angewiesen. Er muss sich der Praxis und der Theorie bedienen – Sachtrieb und Sinntrieb gleichzeitig arbeiten lassen – um seiner Natur als Mensch vollständig gerecht zu werden. Schiller betont die Gefahren, die sich ergeben, sobald einer der beiden Triebe den jeweils anderen dominiert.

02 – Doppelte Entgegensetzung

Für das eigentliche Projekt der politischen Freiheit hält ein solches Ungleichgewicht verheerende Folgen bereit. Denn an eine harmonisch geordnete Gesellschaft oder gar eine politische Liberalität ist nicht mehr zu denken, wo der Sachtrieb im Menschen überwiegt. In diesem anarchischen Naturzustand ist der Mensch stets nur auf seinen persönlichen Vorteil erpicht, es herrscht Thomas Hobbes Bellum omnium contra omnes – der Krieg aller gegen alle.[30] Der natürliche Mensch wird bei Schiller mit der Figur des Wilden beschrieben. Dieser ist allerdings nicht als edler Wilder gedacht (eine Veredelung seines Charakters steht ihm erst noch bevor), vielmehr sieht Schiller in dem Wilden einen unvollständigen Menschen angelegt, den es von seiner leidenden Natur-Bestimmtheit erst noch zu befreien gilt. Wolfgang Riedel weist in seiner Würzburger Abschiedsvorlesung (Ästhetische Distanz, 2019) darauf hin, dass Schiller sich nun gegen Rousseau und damit gegen seine eigene Jugendphilosophie auflehnt. So war auch der junge Schiller noch überzeugt, dass die Soziabilität des Menschen bereits in der Triebnatur verankert sei und nicht erst in vernünftiger Pflicht gegründet werden muss.[31]

Löst stattdessen der Formtrieb den Sachtrieb ganz ab, so wäre an einen Menschen überhaupt nicht mehr zu denken. Der Formtrieb fordert in seiner äußersten Konsequenz eine totale Überwältigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse des Sinntriebes. Er mündet in der Abschaffung des stofflichen menschlichen Geschöpfes und auf gesellschaftlicher Ebene in der Abstraktion des Individuums. Der vom Formtrieb beherrschte Mensch hat sich praktisch totgedacht. Überwiegt der Formtrieb, so wird der Mensch für Schiller zum Barbaren. Der Typus des Barbaren verschließt sich ganz vor der sinnlichen Welt der Gefühle und geht über Leichen um seinem objektiven Gesetz zu dienen.

Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.[32]

Schiller betont, dass die beiden Triebe einander nur in ihrer Tendenz, nicht aber ihrem Wesen nach widersprechen, da sie grundsätzlich auf verschiedenen Gebieten agieren. Der Sachtrieb strebt nach Veränderung, doch fordert er keine Änderung der Person und ihrer Grundsätze. Der Formtrieb drängt auf Beständigkeit, doch muss er nicht das Gebiet der Empfindung fixieren. Ein Ungleichgewicht entsteht dann, wenn die Triebe wider ihrer eigentlichen Natur, die Grenzen des jeweils anderen übertreten. Um dies zu vermeiden, muss eine Abspannung desjenigen Triebes erfolgen, der über seine Domäne hinausgreift. Diese Abspannung wiederum darf niemals auf solche Weise stattfinden, dass sie verheerenden Schaden anrichtet, indem die Empfindungen abstumpfen oder die Geist- und Willenskräfte erschlaffen. Dies hätte lediglich eine plötzliche Umkehr der vorherigen Schieflage, aber nicht ihre Aufhebung zur Folge.

03 – Der Spieltrieb

Es ist also nach einem mittleren Zustand zu suchen, in dem die harmonische Wechselwirkung der Triebe glücken kann. Ein komplementärer Zustand, in dem jeder Trieb sein Gebiet gegen den anderen behauptet, ohne Landnahme in dem fremden Territorium zu begehen. Eine Lage, in welcher der Mensch »diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freiheit bewußt würde, und sein Dasein empfände«.[33] Diesen mittleren Zustand, in dem beide Grundtriebe harmonisch konvergieren, wird Schiller den Spieltrieb nennen. Dieser dritte Trieb strebt nun danach, ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, in dem der Mensch weder physisch noch moralisch genötigt wird.

In seinem 15. Brief präzisiert Schiller noch einmal die Gegenstände, auf welche die beiden menschlichen Grundtriebe gerichtet sind. Dem Sach- oder Sinntrieb, dessen Domäne alles materielle Sein und die unmittelbare Gegenwart in den Sinnen ist, ordnet er den Begriff Leben zu. Den für die geistige Abstraktion zuständigen Formtrieb versieht er mit dem Begriff Gestalt. Aus der Kombination beider Triebe ergibt sich dann sogleich auch der Gegenstand des Spieltriebs. Dieser »wird also lebende Gestalt heißen können«.[34] Indem sich Sinn- und Formtrieb auf diese Weise vereinen, ergeben sich für Schiller erste Parallelen zur Kunst. Denn auch in der Kunst ist die Gestalt bestenfalls lebendig ins Werk gesetzt. Beispielhaft beschreibt er, wie ein lebloser Marmorblock durch die Fähigkeiten des Bildhauers eine scheinbare Lebendigkeit erhält.[35] Gleichzeitig erweitert die freie Betrachtung das stoffliche Kunstwerk um eine geistige Dimension, es nimmt Gestalt an, ohne ganz Gestalt zu werden. Keiner der beiden Gegenstände – weder Leben noch Gestalt – löst sich in der Kunst zugunsten des jeweils anderen ganz auf. Die Kunst fordert beide Vermögen des Menschen zur spielerischen Beschäftigung heraus.

Das harmonische Spiel, das sich im Kontext der befriedeten Trieben entfaltet, vervollkommnet den Menschen noch nicht zum moralischen Subjekt, doch birgt es dessen Möglichkeit. Schiller bezeichnet diesen Zustand als Zustand des Spiels, weil der drängende Ernst der Triebe hier im Wechselspiel erlischt. Die Schattenseite jedes Triebs wird sublimiert. Aus Angst und gewaltvoller Begierde wird in der spielerischen Distanz ein gefälliger Genuss. Die Vervollkommnung ist auch nicht so zu verstehen, dass sich der Mensch in den Rang einer Gottheit erhebt. Er vervollkommnet seine Natur als Mensch. Dabei nähert er sich unter dem Einfluss des Spieltriebs nur in dem Sinne dem Ideal-Menschen insofern sich seine doppelte Natur in einem harmonischen Zustand vereint: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«[36]

1 – 1 Staatsverwandlung

1 – 3 Zwei Modi der Ästhetik 

Schillerdenkmal Mannheim