Zwei Modi der Ästhetik

Zwei Modi der Ästhetik

01 – Das Ideal-Schöne & Das Real-Schöne

Wo Schiller bislang nur die zugrundeliegende Polarität des Menschen beschrieb, begibt er sich ab dem 16. Brief auf einen Exkurs über die Polarität des Schönen selbst. Mit dem schmelzenden Schönen und dem energetischen Schönen findet Schiller zwei Begriffe, welche die grundsätzlichen Qualitäten des Schönen bestimmen. Das Erste entfaltet eine auflösende, das Zweite eine anspannende Wirkung. Sofort weist Schiller darauf hin, dass sich beide Eigenschaften jedoch nur rein theoretisch in der Vorstellung des Ideal-Schönen harmonisch vereinen lassen, im Real-Schönen aber getrennt auftreten:

Aber die Erfahrung bietet uns kein Beispiel einer so vollkommenen Wechselwirkung dar, sondern hier wird jederzeit, mehr oder weniger das Übergewicht einen Mangel und der Mangel ein Übergewicht begründen. Was also in dem Ideal-Schönen nur in der Vorstellung unterschieden wird, das ist in dem Schönen der Erfahrung der Existenz nach verschieden. Das Idealschöne, obgleich unteilbar und einfach zeigt in verschiedener Beziehung sowohl eine schmelzende als energetische Eigenschaft; In der Erfahrung gibt es eine schmelzende und energetische Schönheit.[37]

In dem Schönen der Erfahrung, also dem konkret existenten Kunstwerk, ist das vollkommene Gleichgewicht beider Aspekte nicht mehr zu bewerkstelligen. Hier überwiegt entweder die auflösende, bzw. schmelzende oder aber die energetische Wirkung. Welche Wirkung dominiert, hängt dabei nicht von den intrinsischen Qualitäten des Kunstwerks selbst ab, sondern wird maßgeblich vom Gemütszustand des Betrachters hervorgerufen.[38]

02 – Wirkungen des Schönen

Man gewinnt den Eindruck, dass Schiller nun in seine alte Rolle als Regimentsmedicus zurückfällt, wenn er damit beginnt, die heilsamen Effekte der beiden Kunst-Eigenschaften auf den Betrachter zu schildern. So scheint in der Kunst gegen jede Unzulänglichkeit der menschlichen Natur ein Kraut gewachsen zu sein. Dem angespannten Menschen verschreibt Schiller die schmelzende Wirkung, um ihn empfänglich für »Harmonie und Grazie« zu machen.[39] Der Abgespannte hingegen hat eine Dosis der vitalisierenden, energetischen Wirkung nötig, »denn nur allzugern verscherzt er im Stand der Verfeinerung eine Kraft, die er aus dem Stand der Natur herüberbrachte«.[40] Vergleicht man die Wirkungsweisen des Schönen mit Schillers kritischer Bestandsaufnahme seiner eigenen Gesellschaft, kann man annehmen, dass der Wilde von der auflösenden Schönheit profitiert, indem sie ihn von der Anspannung seiner »rohen und gesetzlosen Triebe« befreit. Während es die energetische Schönheit ist, welche den übermäßig verfeinerten Kulturmenschen von dem »widrigen Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters« kurieren muss.

Zum Ende des 16. Briefs kündigt Schiller noch an, im Folgenden genauer über die Wirkungsweisen seiner beiden Modi des Schönen auf den Menschen aufzuklären. Diesen Plan hält er allerdings nicht ein und vertieft in den übrigen Briefen lediglich die schmelzende Schönheit weiter. Von einer klaren Parallelität zwischen Sinntrieb und Formtrieb auf der einen Seite und der energetischen und schmelzenden Schönheit auf der anderen nimmt Schiller im 17. Brief weiter Abstand. Die beiden Wirkungsweisen der Kunst will er nicht im Sinne einer Humorallehre gegen jeweils nur eine bestimmte Schieflage der Temperamente bzw. ein bestimmtes Ungleichgewicht der Triebe einsetzen. Vielmehr nimmt er mit der Anspannung und Abspannung zwei neue Verfassungen des Menschen ins Auge, die durch die verschiedenen Wirkungsweisen des Schönen behandelt werden sollen:

Die schmelzende Schönheit, wurde behauptet, sei für ein angespanntes Gemüt und für ein abgespanntes die energetische. Angespannt aber nenne ich den Menschen sowohl, wenn er sich unter dem Zwange von Empfindungen, (unter der einseitigen Gewalt des Sachtriebs) als wenn er sich unter dem Zwange von Begriffen (unter der ausschließenden Gewalt des Formtriebs) befindet.[41]

Der angespannte Mensch ist also derjenige, der von seinen Trieben beherrscht unfrei ist, obgleich es dabei keine Rolle spielt, welcher Trieb ihn gerade prägt. Sobald das schmelzende Schöne seine abspannende Wirkung entfaltet, stößt es damit einen regulierenden Vorgang an. Die Auflösung baut das Übergewicht des bestimmenden Triebs ab, woraufhin der andere vom Diktat des Ersten befreit wird und sich entfalten kann, bis ein harmonischer Pegel erreicht ist.[42] Der abgespannte Mensch hingegen wird überhaupt nicht mehr von seinen inneren Kräften beherrscht – er hat sie bereits überwunden. Die energetische Schönheit ist also dazu da, eine durch übermäßige Verfeinerung verursachte Lethargie abzuwenden und den zivilisierten Menschen erst wieder handlungsfähig zu machen. Denn nur der handlungsfähige Vernunftmensch ist überhaupt in der Lage, seine moralischen Prinzipien auch in die Tat umzusetzen. Für die ästhetische Erziehung können beide Wirkungen des Schönen nützlich sein. Ähnlich wie der Mensch durch die Aufhebung der Zwänge von Sachtrieb und Formtrieb im Spieltrieb erst die Möglichkeit gewinnt, sich seinem Ideal anzunähern, ist auch die Ideal-Kunst nur komplett, sofern sie das Schmelzende mit dem Energetischen verbindet.

Doch wie äußern sich diese beiden Eigenschaften des Ästhetischen in der Betrachtung genau? Hier lohnt sich ein Blick in Schillers Schrift »Über das Erhabene«.[43] Seine Beschreibung des schmelzenden Schönen kann man hier als das klassisch wohlgefällige Kunstschöne deuten. In ihm zeigen sich die Erscheinungen harmonisch. Dieses Schöne tritt dort auf, wo die Natur weder den Sinnen noch dem Verstand Probleme bereitet. Es erhält seine abspannende Wirkung auf die menschlichen Triebe dadurch, dass es keinen Anlass zur Anspannung liefert.

03 – Das Erhabene

Ganz anders verhält es sich mit dem energetischen Schönen, mit dem das Erhabene gemeint ist.[44] Es kommt nicht harmonisch und angenehm, sondern mitunter gewaltig und disruptiv daher. Das Erhabene zeigt sich in der dramatischen Naturgewalt, der plötzlichen Katastrophe und für Schiller auch in der Weltgeschichte.[45] Während das schmelzende Schöne den Menschen vom Antagonismus seiner Triebe befreit, bleibt er auch im Zustand seiner Verfeinerung der Willkür der natürlichen Welt ausgeliefert. Das Erhabene versetzt den unvorbereiteten Menschen in Angst und Schrecken. Obwohl er die Natur durch seine technischen Errungenschaften hier und dort punktuell zurückdrängen mag, stellt sie sich ihm spätestens im Tod als überlegene Allgewalt entgegen.

Der Mensch kann nun aber nicht als wirklich freier und damit erst vollkommener Mensch gedacht werden, solange er in diesem einen Umstand nicht frei mitentscheiden darf. Es bleibt ihm nur die Möglichkeit »ein Verhältnis, welches ihm so nachteilig ist, ganz und gar aufzuheben, und eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten.«[46] Die natürliche Gewalt wird dadurch aufgehoben, dass der Mensch sich in eine geistige Sphäre begibt, zu der die Natur keinen Zutritt findet. Die dem Menschen eigene Fähigkeit, durch freie Entscheidung trotz oder sogar gerade wegen des Unglücks, auf seine Prinzipien zu beharren, beweist für Schiller eine Unabhängigkeit von den Natur-Bedingungen im Geist.

Die pathetische Kunst, wie zum Beispiel das dramatische Theater, erfüllt hierfür eine abhärtende Funktion. Das Pathetische ist immer nur ein künstliches Unglück. Während das wahre Unglück sein Opfer wehrlos zu einem denkbar ungelegenen Zeitpunkt überrascht, kann man sich auf das Pathetische einlassen:

Das künstliche Unglück des Pathetischen hingegen findet uns in voller Rüstung, und weil es bloß eingebildet ist, so gewinnt das selbstständige Prinzipium in unserm Gemüte Raum, seine absolute Independenz zu behaupten.[47]

Das Pathetische bietet die Möglichkeit, die Unabhängigkeit des Charakters für den Ernstfall zu proben. Im Schein der pathetischen Kunst begegnet es uns nur als Gegenspieler, nicht aber als Gegner. Es ist damit kein ernst, sondern ein ästhetisches Spiel mit einem ernsten Hintergrund. Dieses künstliche Unglück soll den Menschen in die Lage versetzen, das echte Unglück wie ein künstliches zu behandeln. Das auflösende Schöne bietet dem Menschen hier keine Hilfestellung an, doch das Erhabene, das sich bereits in der pathetischen Kunst andeutet, belebt die Moral. Als Memento Mori ruft es dem verfeinerten Kulturmenschen die Naturgewalt wieder in Erinnerung, nicht damit er an ihr verzweifelt, sondern damit er sich durch einen geadelten Charakter auf der höheren Ebene der Würde über ihren Zwang hinwegsetzt.

1 – 2 Von Wilden & Barbaren

1 – 4 Am Nullpunkt des Schönen Scheins 

Schillerdenkmal Mannheim