Staatsverwandlung

Staatsverwandlung

01 – Schillers Zeitdiagnose

Die blutigen Folgen der Revolution deutet Schiller als gesellschaftliche Mangelerscheinung. Der Mensch sei im Zuge der Aufklärung »aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht«[7][7] und war nun dazu übergegangen, gewaltsam für die Wiederherstellung seiner Rechte zu streiten. Doch weist Schiller in seinem fünften Brief deutlich darauf hin, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann: Die Hoffnung das »Gesetz auf den Thron« zu stellen und eine »wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen«, bleibt vergeblich, da es an der »moralischen Möglichkeit fehlt«.[8] Diese moralische Unmöglichkeit sieht Schiller im Handeln seiner Zeitgenossen belegt. In ihren Taten spiegeln sich »die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls«.[9] Wie zwei apokalyptische Reiter teilen sich die Phänomene der Verwilderung und der Erschlaffung, die Herrschaft über die Zeit. Die Französische Revolution ist also nicht als Unfall einer Gesellschaft, die sich eigentlich bereits auf dem richtigen Weg befand, zu verstehen, sondern der notwendige äußere Ausdruck eines vorherrschenden inneren Unvermögens.

Dieses Problem ist dabei nicht auf die Herrschenden beschränkt, sondern von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß. In der Rolle des Beobachters schildert Schiller, wie die Gesellschaft verwildert in das »organische Elementarrereich« zurückfällt, sobald sie von der Ordnung des alten Staates losgebunden war. So stellen sich in den »niederen und zahlreichen Klassen rohe und gesetzlose Triebe dar, die […] mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen.«[10] Noch schärfer muss Schillers Kritik an den verfeinerten Ständen Teile seiner eigenen Zirkel getroffen haben, denn während der einfache Sansculotte zur Raserei übergeht, wird aus dem »Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger«.[11] Die zivilisierten Klassen bieten Schiller einen »widrigen Anblick der Schlaffheit und Depravation des Charakters«.[12] Sie waren trotz oder gerade aufgrund ihrer verfeinerten Umgangsform völlig unbrauchbar geworden, wenn es darauf ankam, moralische Tugenden in die Tat umzusetzen. Ihnen war der »Egoism« zur Richtschnur geworden, wodurch die kultivierte Intelligenz in leidendem Gehorsam jeden Wunsch nach Verbesserung erstickte.

Dieser verheerenden Bestandsaufnahme der Gesellschaft schließt sich im siebten Brief Schillers Kritik an den Antinomien von Aufklärung und Moderne an. Das Versäumnis der Aufklärung besteht für ihn darin, dass sie als rein theoretisches Unterfangen keinen veredelnden Einfluss auf die Gemüter ausüben konnte.[13] Der Mensch war durch die Entmystifizierung seiner Welt noch lange nicht zu einem vernünftigen Akteur geworden. Stattdessen hatte man einer im Grunde unvorbereiteten Gesellschaft die alten Glaubenssätze entrissen, um ihr im Anschluss einen dünnen Anstrich der Vernunft zu verpassen, der bei den ersten Erschütterungen der bürgerlichen Ordnung bereits wieder abgestreift wurde. Durch ihre strikte Trennung von Sinnlichkeit und Vernunft sowie Realität und Geist hatte sich die Aufklärung in einer folgerichtigen Spaltung von Praxis und Theorie selbst entleibt. Die rein theoretische Aufklärung stand für Schiller ihrer eigenen Umsetzung im Weg. Generell vermisst der Dichter jede Harmonie und Einheit in der Gesellschaft, die er durch immer radikalere Ausdifferenzierungen bedroht sieht:

»Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetzte und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.«[14]

Dieser Zerrissenheit stellt Schiller das antike Griechenland gegenüber. Besonders in der griechischen Götterwelt, deren verschiedenes Personal zwar jeweils einzelne Bereiche des Lebens hervorhebt, dabei aber nie alle anderen Bereiche ganz außer Acht lässt, erkennt er eine harmonische Konstellation. Dieser interdisziplinäre Charakter der griechischen Kultur erlaube es dem einzelnen Mitglied der Polis, als Repräsentant seiner ganzen Zeit aufzutreten. Wo die alten Griechen (und Götter) einzelne Lebensbereiche gemäß ihrer Rolle akzentuierten und doch eine Verbindung zum Ganzen in sich trugen, findet Schiller in seiner Gegenwart eine fragmentarische Vereinzelung verschiedener Dividuen vor, die – abgespalten von der Gesamtheit – allein ihrem Fachbereich frönen. Trotz dieser Faszination gibt sich Schiller keiner verklärten Rückkehr zur Antike hin. So muss auch er die Vorzüge der modernen Spezialisierung anerkennen, die gerade in der Schärfe des Verstandes weit über jede Fähigkeit der alten Griechen hinweg reichen.

Im Denken bringe die Scheidung des spekulativen vom intuitiven Vermögen eine Bündelung der Geisteskräfte mit sich, die nun Erkenntnisse in zuvor unerreichbarer Höhe ermöglicht.[15] Diesem einseitig spezialisierten, vertikalen Intellekt falle aber das horizontal orientierte Universalgenie zum Opfer. Denn wer sich in solch angestrengte Abstraktionen wagt, wird kaum noch in der Lage sein, im nächsten Moment Erfolge in der schönen Dichtkunst zu feiern. Neben dem abstrakten Denker sieht Schiller auch den Geschäftsmann unter der Spezialisierung des Vermögens leiden. Dieser falle in der arbeitsteiligen Neuzeit einer pedantischen Beschränktheit anheim. Da seine Einbildungskraft ganz auf das immerzu schrumpfende Feld seines Berufs gerichtet ist, bleibt er seinem ganzen Wesen nach nur ein Abdruck seines Gewerkes. Heute würde man diesen Zustand als Fachidiotie beschreiben. Während die Gesamtheit also neue Sphären beschreitet, sinkt die Qualität des Einzelnen.

Auch im Staat findet die »Zusammenstückelung« der vereinzelten Individuen zu einem »leblosen und mechanischen Uhrwerk« statt. So sind die Vorzüge eines noblen Charakters für den neuen Staatsdienst weitaus weniger entscheidend als die fachliche Kompetenz in verwalterischen Aufgaben. Die Qualität weicht der Qualifikation und der »tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand«.[16] Hierdurch vollzieht sich eine Entfremdung des Bürgers von seinem Gemeinwesen. Die Regierung wird ihn nur noch abstrakt repräsentieren und bald als quantifizierte Einheit mit Gesetzen verwalten, deren Sinn sich ihm kaum mehr erschließt.

Diesem düsteren Gemälde, das Schiller mit seiner Gesellschaftskritik – in der auch Ansätze einer Technikkritik anklingen – im ersten Viertel der Briefe zeichnet, gilt es nun etwas entgegenzusetzen. Wie soll eine Gemeinschaft wieder vollständig werden, wo sie die Totalität ihres Wesens aufgab, um die Wahrheit auf getrennten Bahnen zu verfolgen? Wie kann eine Veredelung des Charakters bewerkstelligt werden, um den Menschen zum sittlichen Handeln zu führen? Das Problem ist für Schiller von erkenntnistheoretischer Natur, denn die moralische Wahrheit ist über jeden Zweifel erhaben. Vielmehr ist es dem Menschen aufgrund der Schieflage, in der er sich befindet, unmöglich die Wahrheit zu erkennen. Um diese Blockade zu lösen, sucht Schiller zunächst auf gesellschaftlicher, dann auf individueller Ebene nach jenen Kräften, die verantwortlich für die Unstimmigkeiten im menschlichen Gemüt sind. Diese Kräfte will der Dichter mit einem ganzheitlichen Ansatz ins Gleichgewicht bringen.

Die Bedingung einer notwendigen Veredelung des Charakters erkennt Schiller darin, dass der Mensch in einen anderen Zustand versetzt wird. Das Ungleichgewicht im Menschen kann durch die Wirkung des Schönen zurechtgerückt werden. In seinem zweiten Brief heißt es bereits prophetisch: »daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.«[17]

02 – Der Naturstaat

In seinem Naturzustand ist der Mensch unfrei, denn er lebt in einem Stadium des Leidens, in dem er die auf ihn einwirkende Natur erdulden muss. Doch verfügt er als Mensch über die Fähigkeit sich seiner Vernunft zu bedienen und die Forderungen, welche die Not an ihn richtet in freier Entscheidung abzulehnen – »das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.«[18] Indem der Mensch seine Vernunft zunächst allein dazu einsetzt, der Natur zu trotzen, mag er ihrer unmittelbaren Gewalt, aber nicht ihrer Bestimmung entkommen. Er findet sich in einem Staat der Not wieder, dessen ganze Einrichtung ausschließlich auf die Negation der Natur abzielt. Wo der Naturzustand den Menschen mit zufälligen Herausforderungen bedrängt, sind auch die Antworten, welche die Gesellschaft des Notstaats erwidert, von der zufälligen Natur bestimmt. Dieses willkürliche Stadium kann dem Menschen nun auch nicht genügen. Denn es entspringt einer naturbestimmten und nicht der freien Vernunft. Zu den Forderungen der Letzten zählt auch das Gesetz der Moral. Der Weg der Besserung kann nun durch eine kulturelle Verfeinerung der Sitten angetreten werden. Die Sittlichkeit soll den gemeinen Charakter im rohen Bedürfnis auslöschen, indem sie das Bedürfnis durch die Schönheit sublimiert. Frei von den rohen Zwängen der Natur, erschafft sich der Mensch so über die Kultur einen künstlichen »Endzweck«.[19] Dieser besteht nun nicht mehr in der bloßen Negation der blinden Naturkräfte. Sein Gesetz folgt dem moralischen Ideal.

Schillers Staatsverwandlung in drei Akten, die er im dritten Brief skizziert, weist den Ausweg aus einer zuvor ausweglosen Situation. Soll es allerdings gelingen, den Naturstaat in einen sittlichen Staat zu überführen, so ist ein behutsames Vorgehen von oberster Priorität: Der Naturstaat lässt zwar noch keine moralische Gesellschaft zu, doch hält er dem Menschen immerhin die Gefahren der Natur vom Leibe. Wird seine Kontinuität im Zuge der sittlichen Staatsverwandlung für einen Moment aufgehoben, stürzt der Mensch in den Naturzustand zurück und muss erneut von vorn beginnen – »hier gilt es das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen.«[20]

Für diesen fliegenden Wechsel will sich Schiller nicht auf den natürlichen Charakter des Menschen verlassen. Er misstraut diesem als selbstsüchtiger und gewalttätiger Kraft, die »vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt«.[21] Der sittliche Charakter hingegen vermag auch nicht zu helfen, da seine Genese zu diesem frühen Moment freilich erst noch in der Zukunft liegt. Stattdessen muss der physische Charakter (bzw. Trieb) entschärft werden, indem man ihm die Willkür nimmt. Zugleich soll dem moralischen Charakter die Freiheit genommen werden, indem er in Erscheinung tritt. Hiermit ist gemeint, dass der moralische Charakter im Bannkreis der materiellen Welt als Ideal heraufbeschworen werden soll. Im Rahmen dieser Geistbeschwörung tritt die Vernunft zunächst als schöner Schein auf den Plan.

03 – Totalität des Charakters

Schiller geht davon aus, dass jeder Mensch bereits ein Ideal des reinen Menschen als Anlage in sich trägt. Eine urplötzliche Herrschaft der reinen Vernunft würde den Naturmenschen allerdings überrumpeln. Seine Individualität würde unter den objektiven Formen, nach denen die Totalität der Vernunft strebt, abhanden kommen. Ein reiner Staat der Vernunft, der das moralische Gesetz einfach erzwingt, mag der formalen Moral genügen, doch würde dieses Verfahren vor der finalen anthropologischen Analyse keinen Bestand haben. Schiller erinnert erneut daran, dass der Mensch als Mensch von einem geistigen und natürlichen Charakter ist: »[…] eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet sein, die nur durch Aufhebung der Mannigfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist.«[22] Anstelle der Totalität der Vernunft fordert Schiller nun eine »Totalität des Charakters«.[23] Dieser Totalität nähert sich der Mensch nun durch ein vorsichtiges Erkennen seines inneren Idealmenschen qua der Beschäftigung mit der kulturell heraufbeschworenen Erscheinung der Vernunft. Auf diese Weise nähert sich der konkrete Mensch in seinem Charakter dem Ideal des objektiven Menschen so weit, dass er als Repräsentant des reinen Menschen gelten kann. Diese Annäherung endet jedoch auf einem Zenit, an dem ein Übertritt die Aufgabe jeder Eigenheit zur Folge hätte. In der nun erreichten Totalität des Charakters verkörpert auch der Staat »die objektive und kanonische Form« der Gesellschaft, ohne seinen einzelnen Teilen Gewalt anzutun.[24] Schiller rudert jedoch ein wenig zurück und befindet, für den Ausnahmefall, in dem der harmonische Balanceakt der Gesellschaft von feindseligen Elementen bedroht wäre, dass der Staat den »Ernst des Gesetzes annehmen, und, um nicht ihr Opfer zu sein, eine so feindselige Individualität ohne Achtung darnieder treten« müsse.[25]

In der Regel regiert der »mechanische Künstler«, wie Schiller ihn nennt, nur im Naturzustand. Dieser bearbeitet achtlos die rohe Natur. Später kommt der »schöne Künstler« hinzu, der seinem Material genauso Gewalt antut, es aber vermeidet, dies zu zeigen. Allein der »pädagogische Künstler« respektiert den Stoff, den er bearbeitet. Dieser letzte Künstler macht sein menschliches Material zu seiner Aufgabe, indem er es als Selbstzweck achtet. Gleichzeitig will der pädagogische Künstler die Totalität des Charakters im schönen Schein seiner Kunst hervorbringen. Für den pädagogischen Staatskünstler bedeutet das zunächst, dass er lernen muss, den Menschen als Mensch zu erkennen. Denn nur so wird es möglich die Gefahren einer Staatsverwandlung »nach moralischen Prinzipien« unschädlich zu machen.[26]

0 – 2 Entstehungsgeschichte der Briefe

1 – 2 Von Wilden & Barbaren 

Schillerdenkmal Mannheim