Spieltrieb & Würde

Spieltrieb & Würde

Immer wieder betont Schiller in seinen Briefen die Doppelnatur des Menschen. Die veredelnde Erziehung der menschlichen Sitten muss beide Teile berücksichtigen und darf weder den Verstand auf Kosten der Empfindung noch die Empfindung zum Nachteil des Verstands bevorteilen. Dabei verfügt jeder der beiden Grundtriebe wiederum über eine Tag und eine Nachtseite. So kann der Formtrieb janusköpfig als rationale Gewalt oder vernünftige Welt-Erkenntnis auftreten. Genauso ist der Sachtrieb in der Lage, Angst und Begierde im Gemüt zu stiften, zur Flucht und zum Angriff zu blasen oder aber in genussvoller Empfindung mit dem Verstand zu kooperieren. Den glücklichen Zustand der Mitte, in dem jeder Trieb dem Anderen seine Freiheit zugesteht, findet Schiller im freien Spiel. Was für die Triebe im Menschen gilt, wird in der freien Gesellschaft dann auf das Zusammenspiel der einzelnen Mitglieder übertragen.

Wo Thomas Hobbes den Urkonflikt der Menschheit in der Bewegung des Lebens sieht, in der sich für ihn bereits eine unvermeidliche Kollision anbahnt,[113] deutet für Schiller gerade die freie und spielerische Bewegung auf den Grundpfeiler menschlicher Harmonie hin. Das treffendste Sinnbild dieser Bewegung findet Schiller im englischen Tanz der höfischen Gesellschaft: »Ein Zuschauer aus der Gallerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen.«[114]

Dies kann glücken, wenn die Bewegung eine interesselose und schöne Bewegung ist. Für die Triebe bedeutet das, dass der Spieltrieb aufkommen kann, sobald beiden Grundtrieben ihr drängender Ernst genommen wurde.

Stellt man nun die Frage nach dem aktuellen Zwischenstand von Schillers Projekt der ästhetischen Erziehung, fällt augenscheinlich auf, dass mindestens der Spieltrieb, der als Mediator der beiden menschlichen Naturen fungieren soll, noch nicht aus der Welt geschafft wurde. Es drängt sich sogar der Verdacht auf, dass sich das Spiel unlängst zu einem zentralen Leitmotiv in der Kultur erheben konnte. Das populäre Gestaltungsprinzip der Gamification fordert, dass Aktivitäten, die normalerweise in einem Nicht-Spiel-Kontext stattfinden[115] – also ernst sind –, mit spieltypischen Elementen angereichert werden. Im digitalen Bereich verfolgen gamifizierte Systeme beispielsweise das Ziel, die Nutzererfahrung bei der Bedienung einer Anwendung angenehmer zu gestalten. Auch für Angestellte in Unternehmen, Zielgruppen von Werbung oder Einkäufer in einem Onlineshop werden mit Hilfe von Gamification optimierte Anreizstrukturen geschaffen.

Die Betonung des Spiels als wichtiger Bestandteil des Alltags greift besonders in die Berufswelt hinein. Oft geht es hier jedoch noch nicht um Gamification im eigentlichen Sinne, denn Arbeit und Spiel sollen nicht gleichzeitig, sondern zunächst in immer näheren Abständen versetzt stattfinden. Gerade in der Kreativbranche ergänzen zahlreiche Startups und Agenturen ihre Büroräume um Tischfußballspiele und Arcade-Konsolen. Auch etablierte Mittelständler assoziieren sich gerne mit der Idee des spielerischen Arbeitsalltags. Entsprechende Konzepte verbreiten sich als mimetischer Isomorphismus über externe Berater oder branchenspezifische Messen. Eine kulturelle Transformation der Arbeitswelt, die unter dem Sammelbegriff New Work unternommen wird, soll die Attraktivität der eigenen Arbeitgebermarke im Wettbewerb um dringend benötigte Fachkräfte stärken und die Mitarbeiterbindung des bestehenden Personals festigen. Durch einen ausgeglichenen Angestellten erhofft man sich nicht nur eine gesteigerte Produktivität und Loyalität, sondern auch die Identifikation mit den Werten und der Kultur des Unternehmens. Wo der Begriff des Feierabends noch eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben markiert, reichen spielerische Ergänzungen des Arbeitsalltages in die Freizeit hinein. Seinen Arbeitsplatz verlässt der Angestellte auf dem Google Campus über eine große Rutsche im Foyer des Gebäudes, um anschließend auch seine Freizeit in einer unternehmenseigenen Einrichtung zu verbringen. Hier reicht das Angebot von Minigolfplätzen über eigene Konzerte bis hin zu Kletterhallen. Auch die internen Sommerfeste von Google und Facebook stehen einem kleinen Musikfestival oder Jahrmarkt in nichts nach. Zudem erhalten diese Events durch eine strikte Einhaltung der Markenidentität in allen Themenwelten zusätzlich noch den Charakter eines Gesamtkunstwerkes ganz im Sinne Wagners.

Während sich Ernst und Spiel hier zwar einander annähern, werden sie weiterhin zeitlich getrennt ausgetragen. Die Gamification strebt allerdings eine gleichzeitige Verschmelzung beider Verfassungen an. Langweilige oder anstrengende Aspekte einer Tätigkeit sollen nicht etwa durch nachgelagertes Spielen wieder ausgeglichen werden, sondern ihre negativen Qualitäten durch das Spiel verlieren. Gamification ist dann besonders erfolgreich, wenn der Nutzer durch sie in den Flow gerät. Er ist in diesem Zustand so sehr in seine Tätigkeit vertieft, dass er um sich herum Raum und Zeit vergisst. Bei Schopenhauer wird der Zustand des Glücks rein negativ als bloße Abwesenheit von Langeweile verstanden. So muss auch die Aufmerksamkeit des Anwenders gamifizierter Inhalte andauernd durch ein Wechselspiel aus Belohnung und Herausforderung angeregt werden. Der Flow-Zustand droht abzureißen, sobald der Nutzer mit zu großzügigen Belohnungen überschüttet oder zu schwierigen Herausforderungen konfrontiert, entweder unterfordert oder überfordert wird. Auch Irritationen durch die Außenwelt oder widersprüchliche Inhalte des gamifizierten Systems selbst, stellen eine Gefahr für den Flow dar. Hier gibt besonders die Welt der Videospiele die Vorlagen. So kann man mittels neuer Arbeitssoftware beispielsweise virtuelle Erfolge erzielen, während man die vorbereitende Buchhaltung erledigt. Die Plattform Gather Town hingegen versetzt den Mitarbeiter aus seinem Homeoffice heraus direkt in ein Videospiel. Hier können Meetings im digitalen Raum abgehalten werden, wobei man einen Avatar durch ein virtuelles Büro steuert, dessen Optik an Videospiele aus den 1990er Jahren gemahnt. Bewegt man sich in die Nähe des virtuellen Abbilds eines Kollegen, so kann man sich über die Webcam verständigen. All diese Instanzen der Gamification haben gemeinsam, dass ihnen noch immer ein mehr oder minder ernster Stoff zugrunde liegt. In eine andere Richtung geht es bei dem amerikanischen Kulturanthropologen David Graeber, der in seinem Buch »Bullshit Jobs« einem Großteil der modernen Büro Jobs unterstellt, dass diese nur noch eine rein beschäftigungstherapeutische Funktion erfüllen.[116] Die Angestellten nehmen ihre Arbeit, die keinen nachvollziehbaren Wertschöpfungs-Zusammenhang mehr erkennen lässt, dann als überflüssig wahr. Der Beruf selbst ist nicht mehr ernst, sondern wird nur noch vorgespielt.

Obwohl Beratungsunternehmen der Gamification den Homo Ludens aufleben lassen möchten und sich dafür sogar bei Schillers einschlägiger Stelle[117] bedienen, findet der Dichter das freie Spiel, welches ihm vorschwebt, am ehesten in den unblutigen Wettkämpfen zu Olympia.[118] Noch getreuer wird das interesselose Spiel im himmlischen Olymp der griechischen Götterwelt ausgelebt. Das freie und erhabene Sein der Götter drückt sich darin aus, dass sie befreit von jedem Zwang der Naturwelt, dem Müßiggang und der Gleichgültigkeit huldigen. Während Ernst und die Arbeit noch »die Wangen der Sterblichen furchen«, erkennt Schiller im marmornen Antlitz der Juno Ludovisi Anmut und Würde zugleich sprechen.

In seinem Text über Anmut und Würde bringt Schiller die Anmut mit dem schmelzenden Schönen und die Würde mit dem Erhabenen in Verbindung. Die Würde ist hier die Erscheinung der Moral, die sich mittelbar über sinnliche Zeichen bemerkbar macht, sobald der Wille sich gegen die Triebe durchsetzt. So kommt Schiller auch darauf, dass die Anmut in der Freiheit der willkürlichen Bewegung und die Würde in der Beherrschung derselben liegt.[119] Natürlich grenzt Schiller seinen Spielbegriff von all dem, was man im gewöhnlichen Leben als Spiel bezeichnet, ab.[120] Doch kann es keineswegs schaden, wenn Gestalter gamifizierter Inhalte sich die Wichtigkeit der Würde in Erinnerung rufen, wo sie versuchen, den Menschen in überzeitliche Flow-Zustände zu versetzen.

2 – 3 Moralische Gestaltung

3 – 1 Schlussbemerkung

Schillerdenkmal Mannheim