Moralische Gestaltung

Moralische Gestaltung

Unter dem Motto »Gestalten wir, wie wir leben wollen« bewirbt sich die Stadt Frankfurt am Main auf den Titel des World Design Capitals 2026. Auf ihrer Webseite erklärt die dazugehörende Initiative Design for Democracy, weshalb diese Aufgabe ausgerechnet der Gestaltung zufällt. Entgegen der Annahme, dass sich das Design lediglich mit der Gestaltung von »hübschen Dingen« befasst, heißt es dort:

Doch die rein ästhetische Gestaltung, das Verschönern, ist nur ein kleiner Teil davon, was Design leisten kann. Vielmehr ist das Design geprägt von dem Geist, Zustände zu hinterfragen, in die Zukunft zu denken und Dinge zu ändern. Und all das brauchen wir heute mehr denn je.[103]

Die Frankfurter Initiative reiht sich dabei in die größere Strömung des Social Designs ein. Damit ist sie Teil einer Bewegung, die Gestaltung vor allem unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Auswirkung – des sozialen Impacts – betreiben möchte. Um herauszufinden, wie Schiller, der das betriebsame Frankfurt nie besonders leiden konnte, zu diesem Projekt stehen würde, muss zunächst erforscht werden, wie diese Gestaltung genau gemeint ist.

Social Design will sich von früheren bewusst sozial-transformativen Gestaltungsprojekten wie beispielsweise dem Bauhaus, dahingehend abgrenzen, dass es die zu gestaltende Gesellschaft am Prozess ihrer Gestaltung teilhaben lässt. Somit ist Social Design als Gestaltung mit der Gesellschaft zu verstehen. Gestaltungsentscheidungen und Konzepte sollen entweder möglichst basisdemokratisch oder unter Anhörung lokaler Stimmen der betroffenen Gemeinschaften beschlossen werden. Jedoch sind diese Aushandlungsprozesse des Social Designs ihrem Ziel nach meist nicht Ergebnisoffen. Neben der Grundannahme, dass überhaupt gestaltet werden soll, geben Projekte des Social Designs in der Regel weitere positive Ziele vor. Beispielsweise soll das Resultat der Gestaltung einen möglichst geringen Schaden an Umwelt und Natur verursachen. Daniel Martin Feige weist in seinen Betrachtungen zum Social Design (Coda) auf das offensichtliche Problem hin, dass der partizipatorische Charakter, wenn er rein prozedural angedacht ist, mitunter keine Unterscheidung zwischen produktiven und gefährlichen Lösungen in Bezug auf die Zielsetzung ausmachen kann.[104] So können auch größere Wählerkörper entgegen dem Postulat von der Weisheit der Vielen[105] einem kollektiven Verblendungszusammenhang erliegen. Weiter warnt Feige davor, dass Social Design droht, in sein Gegenteil umzuschlagen, sobald es »die Güte der eigenen Entscheidungen nur noch prozedural zu rechtfertigen droht«.[106] Auch Schiller wäre mit einem so verstandenen Social Design noch unzufrieden, denn der sittliche Zustand der Partizipierenden bleibt vollkommen ungeklärt. Im schlimmsten Fall wäre zu befürchten, dass eine Social Design-Befragung die rohen und gesetzlosen Triebe der Teilnehmer dazu ermächtigt, darüber abzustimmen, wie sie am ehesten zu ihrer »tierischen Befriedigung eilen«.[107]

Eine andere Form der gesellschaftlichen Gestaltung versucht diese Probleme zu umgehen, indem bereits der Handlungsrahmen streng ausgestaltet wird. Unter dem Begriff Nudge popularisierten die amerikanischen Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein ihren verhaltensökonomischen Ansatz zur Gestaltung von klugen Entscheidungen.[108] Wie im Social Design wird auch hier davon ausgegangen, dass Gestaltung eine maßgebliche Rolle für das Verhalten von Menschen spielt. Gleichzeitig hält man es für ethisch unhaltbar, das erwünschte Verhalten einfach zu erzwingen. Stattdessen soll der Mensch durch die Gestaltung seines Handlungsrahmens dazu erzogen werden, eine kluge Entscheidung zu fällen. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Abwesenheit von Entscheidungsgestaltung, nicht keine, sondern schlechte Gestaltung bedeutet. Um ein rein negativ verstandenes Freiheitsprinzip[109] zu wahren und zugleich der Verantwortung des Gestalters gerecht zu werden, schlägt man also vor, die Attraktivität der klugen Entscheidungen zu steigern und die anderen möglichen Entscheidungen gemäß dem Grade ihrer Schädlichkeit unattraktiv zu gestalten. So soll der theoretischen Freiheit das Schlechte zu wollen unter einer größtmöglichen Maximierung der Wahrscheinlichkeit kluger Entscheidungen stattgegeben werden. Dieser weiche Paternalismus kann als abgeschwächte Spielart von Schillers frühem Notstaat eingeordnet werden. Denn die Auswahl der gewünschten Entscheidungen folgt meist einer situativen Optimierung stofflicher Zwecke und unterliegt somit der Zeitlichkeit. Zwar wird eine gewisse Freiheit als überzeitliches Gesetz verankert, doch entzieht sich die zugrunde liegende Argumentation einem Großteil der Anwender. Eine Vermittlung der Ziele findet hauptsächlich über behaviorale Konditionierung statt und überspringt den Erkenntnisprozess.

Social Design als werteorientierte Prozesstechnik und Verhaltensökonomik als situationsethische Beeinflussung sind nicht darauf angelegt den Menschen zu einem vernünftigen Subjekt im Sinne der ästhetischen Erziehung zu erziehen. Social Design nimmt die Vernunft bereits als gegeben an, während die Verhaltensökonomik vernünftiges Handeln nur noch simuliert. Eine in Schillers Absicht pädagogische Gestaltung hingegen müsste sich der Aufgabe stellen, einem holistischen Menschenbild gerecht zu werden. Dabei muss die Kommunikation aller positiv gesetzten Ziele zunächst eingestellt werden, was jedoch nicht bedeutet, dass diese pädagogische Gestaltung eine beliebige Gestaltung wäre. Schiller unterscheidet zwischen dem mechanischen Künstler, der seine Masse gewaltsam auf die Form seiner Zwecke zurichtet, und dem schönen Künstler, der seine Masse ebenso achtlos bearbeitet, es aber vermeidet, die Gewalt offen zu zeigen. Der pädagogische Künstler hingegen nimmt die Freiheit seines Stoffes in Schutz, indem er den Menschen zugleich zu seiner Aufgabe und zu seinem Material macht.[110] In seiner Schrift über das Erhabene geht Schiller genauer auf das Problem der Gewalt ein. Für ihn ist der Wille der »Geschlechtscharakter des Menschen«.[111] Daher hebt die Gewalt, die versucht, diesen Willen zu brechen, den Menschen auf. Die Möglichkeit, etwas freiwillig zu wollen, wird durch den Zwang vereitelt, hierdurch macht die Gewalt dem Menschen seine Menschlichkeit streitig. Er wird als Objekt behandelt, das wie die übrige Natur mechanisch geformt werden kann.

Gleichzeitig wäre es einem Mensch, der überhaupt nicht in die Lage geraten kann, einem Zwang zu erliegen, nicht möglich, seine Vernunftskraft zu entwickeln. Wo eine »verschwenderische Natur« den Menschen von jeder Anstrengung losspricht, kann sich keine Selbsttägigkeit entwickeln (zu der auch das Denken zählt). Stattdessen muss die »Tätigkeit zum Genusse und nur der Genuß zur Tätigkeit«[112] führen. Die Gefahr müsste also in ihren existenzbedrohenden Graden gebannt und gleichzeitig als Sparringspartner in Form der Herausforderung, an der der Mensch wachsen kann, erhalten werden. Gegenstände einer pädagogischen Gestaltung dürften demnach nicht darauf abzielen, ihren Anwender von jeder Anstrengung freizusprechen, indem sie eine utopische Komfortmaximierung anstreben. Gegenstand der pädagogischen Gestaltung wäre es dann, dem Menschen Möglichkeiten zur Aufgabenbewältigung zu liefern, wodurch er in die Position gerät, das Resultat seiner Tätigkeit anschließend zu genießen. Ein auf diese Weise gestalteter Gebrauchsgegenstand müsste die mit ihm durchzuführende Aktivität funktionalistisch möglichst optimal unterstützen, ohne die Aktivität selbst durch sein Vorhandensein obsolet zu machen. Für die Typografie bedeutet das beispielsweise, dass durch Schriftwahl, Schriftgröße, Zeilenabstand etc. eine optimale Lesbarkeit erzielt wird, welche die Auseinandersetzung mit einem Text bestmöglich unterstützt. Eine zunehmende Abkehr von der pädagogischen Gestaltung von Wissen wäre die App Blinkist, die danach strebt, den Inhalt von Büchern in 15 Minuten zusammenzufassen.

2 – 2 Digitale Ornamente

2 – 4 Spieltrieb & Würde

Schillerdenkmal Mannheim