Digitale Ornamente

Digitale Ornamente

In seinem letzten Brief zur ästhetischen Erziehung entwickelt Schiller eine anthropologische Geschichte des Schönen. Zentral ist für ihn dabei die Produktion von Überfluss. Dieser führt in drei aufeinander folgenden Entwicklungsstufen zu einer Veredelung der Gesellschaft. Zuerst äußert sich ein Überfluss der Quantität, indem der wilde Mensch beginnt, für seine materielle Zukunft vorzusorgen. Dieser Überfluss dient noch immer dem Sinntrieb und der Zeitlichkeit, jedoch nicht mehr dem akuten Moment. Hat sich der Mensch beispielsweise durch Nahrungsvorräte gegen die Gewalt der Natur in Stellung gebracht, geht er im zweiten Schritt dazu über, einen Überfluss der Qualität zu produzieren. Er stillt das Bedürfnis des sich regenden Formtriebs, indem er seine Gebrauchsgegenstände schmückt. In der dritten Stufe erfolgt ein Überfluss des Verhaltens, indem der Mensch nun auch auf die schöne Form seines Betragens Acht gibt. Der Überfluss gewinnt so eine sittliche Dimension und der gesellige Mensch »muß Freiheit lassen, weil er der Freiheit gefallen will«.[84]

Für das Eintreten der zweiten Entwicklungsstufe legt Schiller noch eine weitere Bedingung fest. Der Mensch muss sich als Mensch erkennen können. Dieser Erkenntnisprozess selbst vollzieht sich in der ästhetischen Erfahrung, die erst später hinzukommt. Dem voran steht allerdings die notwendige Möglichkeit, dass er sich als Individuum und zugleich als Vertreter seiner Gattung erfahren könnte. Er darf weder troglodytisch (eremitisch) vereinzelt noch nomadisch vermasst leben.[85] Stattdessen muss er eine Privatsphäre besitzen, in die er sich zurückziehen kann und aus der er zugleich hinaus in die Gesellschaft treten mag. Eine gewisse Sesshaftigkeit der Gemeinschaft soll jener Produktion des ästhetischen Überflusses also vorangehen.

Hier ist die zweite Stufe besonders interessant, weil nun der Formtrieb als geistige Kraft erstmals eine ästhetische Veränderung an der Materie bewirkt. Die dritte Entwicklungsstufe sowie die gesamte übrige ästhetische Erziehung handeln nur von der Ausweitung des Einflussbereichs oder der Verbesserung der Art und Weise dieses Eingriffs. Die Form erscheint nach dem Übergang eines Überflusses des Stoffs hin zu einem Überfluss an dem Stoff in der Welt. Schiller beschreibt den Überfluss, mit dem dieser Mensch der zweiten Stufe sein Umfeld verziert, als ästhetische Zugabe. Wichtig ist hier, dass es der Stoff ist und nicht ein anderer Stoff: Der Stoff, der bereits da ist, bereits in Verwendung ist, erhält eine ästhetische Zugabe. Durch diese Zugabe wird der Stoff zudem nicht vollkommen ausgetauscht, sondern erweitert. Er hört in keinem Moment auf, seine ursprüngliche Funktion zu erfüllen. Allerdings ist es möglich, dass der Mensch diese Veränderung auf Kosten der sinnlichen Erfahrung vornimmt, dass also die Funktion durch die Verzierung teilweise eingeschränkt wird. Sobald der Mensch in diesem frühen Stadium erste Versuche unternimmt, sein Dasein zu verschönern, ist für Schiller »sein tierischer Kreis aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.«[86]

Das Vorhandensein von gestalteten Gebrauchsgegenständen, die etwas Überflüssiges an sich haben, stellt also eine essenzielle Wegmarke der kulturellen Entwicklung dar. Schiller nennt es nicht beim Namen, doch würde man eine solche Zierde an einem Gebrauchsgegenstand gemeinhin als Ornament bezeichnen. Dieses Ornament besitzt keinen symbolischen Charakter, indem es auf ein anderes Signifikat hinweist, dem man schöne Qualitäten zuspricht, sondern es selbst verweist den Betrachter direkt auf das Schöne. In dem nun herrschenden schönen Schein des Ornaments wird das Schöne über die Sinneseindrücke an den Formtrieb herangetragen, der es genießen kann.

Auch für Adolf Loos ist die Ornamentierung ein bedeutender Zwischenschritt in der Kulturentwicklung: »Der Drang, sein Gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren, sind die Uranfänge der bildenden Kunst.«[87] Für Loos endet das Ornament jedoch mit dem Zeitalter des Arbeiters. Schiller deutet nur an, dass der Mensch ab einem gewissen Punkt nicht mehr auf das Ornament am Gebrauchsgegenstand angewiesen ist. Es genügt dem Menschen dann nicht mehr, einen ästhetischen Überfluss in das Notwendige zu bringen und das Schöne wird »für sich allein ein Objekt seines Strebens«.[88] Man kann bei Schiller eine lineare Hierarchie von vier Güteklassen der schönen Erscheinungen finden:

1. Das Schöne an der Natur

Die Natur kann bereits durch Zufall erste Instanzen des Schönen bereitstellen. Schiller spricht hier von der gesegneten Zone »wo aus dem Leben selbst die heilige Ordnung quillt«.[89] Dabei schwebt ihm vermutlich besonders der Mittelmeerraum als Urkulisse der griechischen Kunst und Kultur vor.

2. Das Schöne am Gebrauchsgegenstand

Die oben beschriebene ästhetische Zugabe an den Stoff, der bereits in Verwendung ist. (Das Ornament am Gebrauchsgegenstand)

3. Das Schöne am zweckfreien Objekt

Die Kunst selbst. Das Ästhetische ist hier keine Zugabe mehr, sondern bestimmt das gesamte Objekt, welches keinem stofflichen Gebrauchszweck mehr dient. Dies taucht zunächst als äußerer Schmuck am Menschen auf. »Nicht zufrieden, einen ästhetischen Überfluß in das Notwendige zu bringen, reißt sich der freiere Spieltrieb endlich ganz von den Fesseln der Notdurft los, und das Schöne wird für sich allein ein Objekt seines Strebens. Er schmückt sich.«[90]

4. Das Schöne am Subjekt

Das Schöne am Handeln des Menschen als gesellschaftlich konstitutiver Faktor im ästhetischen Staat. Dieses performativ Schöne erscheint nun nicht mehr über das Medium eines zwecklosen Objekts, sondern im freien Subjekt, welches zugleich seinen eigenen Selbstzweck darstellt.

Da die ästhetische Erfahrung als zeitlich begrenzter Zustand immer wieder von neuem eingeleitet werden muss, bleibt fraglich, ob Schiller das Ornament ganz abschaffen will, sobald es ausgedient hat. Stellt das Ornament am Gebrauchsgegenstand doch eine gewisse Absicherung dar, ohne die der Mensch während einer Durststrecke der Kunst sofort Gefahr laufen würde, auf direktem Wege zum Ausgangspunkt herab zu stürzen. Ein solches Rückbaugebot der unteren Güteklassen des Schönen würde absolut genommen bedeuten, dass auch die Natur als Trägerin einer nun niedrigeren Schönheit ganz aufgegeben werden muss, sobald der Mensch seine Sitten entdeckt. Derartige Maßnahmen kann man dem Autor des Spaziergangs wahrlich schwer zutrauen.[91]

Für Loos steht hingegen fest, dass die Produktion neuer Ornamente in seiner Zeit keine Berechtigung mehr findet. Die öffentlichen Ornamente schaffen es nicht, das Wesen des modernen Zeitalters auszudrücken und sind höchstens als museal gekennzeichnetes Zitat gestattet.[92] Das moderne Ornament als vergängliche Modeerscheinung hat für Loos keine Vergangenheit und keine Zukunft. Zudem wird der industrielle Arbeiter von dirigistischen Gestaltern zur Umsetzung des überflüssigen Ornaments gezwungen, wohingegen sein natürlicher Modus das funktionalistische Glatte ist. Im Zeitalter des Arbeiters ist das Ornament daher ein Fremdkörper und gerade das Glatte drückt den Charakter der Zeit ideal aus. Auch dem Konsum bietet das Unornamentierte bei Loos die Stirn, da es durch seine zeitlose Form nicht ständig ersetzt werden muss. Im Ornament wird dem Gegenstand ein ästhetisches Ablaufdatum eingeprägt, welches die physische Haltbarkeit weit unterschreitet. Hieraus folgt die Verschwendung von Geld und Arbeitskraft.[93]

Trotz des Aufkommens von Neuer Sachlichkeit und Bauhaus lässt sich das Ornament nicht ausmerzen. So wurden die Forderungen von Loos scheinbar ins Leere gesprochen. Auch haben sich die Produktionsweisen des Ornaments zwischen Schiller, Loos und unserer eigenen Zeit einem enormen Wandel unterzogen. Digitale Gebrauchsgegenstände müssen nicht zwingend neu angeschafft werden, sobald sie ihr ästhetisches Ablaufdatum erreichen. Diese sind durch ständige Aktualisierungen ihrem Wesen nach einer kontinuierlichen ästhetischen und funktionalen Evolution unterzogen, was eine anhaltende Wieder-Anschaffung mittels Abo-Modell rechtfertigt. Während Loos noch eine Zeit der verschwenderischen Mode befürchtete, zu der man einen Schreibtisch so oft wechseln muss wie eine Abendgarderobe,[94] die nur für einen Anlass vorgesehen war, hat sich der digitale Arbeitsplatz von Microsoft Office allein im vergangenen Jahr 37 Updates unterzogen.

Auch stellen das Glatte und das Ornament im digitalen Raum keine unvereinbaren Widersprüche mehr dar. Die Autos der Firma Tesla folgen in ihrer aerodynamisch glatten Gestaltung einem reduzierten Funktionalismus. Dies war noch ein Novum, als Roland Barthes die Citroën DS 19 als fugenloses Werk der organischen Geschwindigkeit beschrieb.[95] Heute finden sich an den meisten Wägen mehr oder weniger glatte Oberflächen. Der äußere Minimalismus setzt sich bei den Werken des Tesla-Chefdesigners Franz von Holzhausen aber auch im Inneren fort. In dem auf das Notwendige reduzierten Innenraum finden sich beinahe keine Knöpfe mehr und auch Lenkrad, Gas- und Bremspedale erfüllen nur noch einen regulatorisch geforderten Übergangszweck. Sie werden verschwinden, sobald der Autopilot die gesetzliche Freigabe erhält. Gleichzeitig verbergen die Autos in ihren Bordcomputern aber eine Fülle an Überflüssigem. Ein Display im Zentrum des Wagens ermöglicht den Zugriff auf beinahe alle Funktionen. Hierüber lässt sich nicht nur die Sitzheizung steuern, auch kann der Wagen als Karaoke-System oder Spielkonsole genutzt werden. Darüber hinaus verfügt das Fahrzeug über einen Party-Mode, der es im geparkten Zustand dazu bringt, laute Musik über die Lautsprecher abzuspielen und seine Türen im Takt auf und ab zu bewegen. Zudem hält die Software des Bordcomputers zahlreiche versteckte Funktionen bereit, die gar nicht mehr im Handbuch aufgeführt sind. Diese sogenannten Easter-Eggs können dann nur von Eingeweihten abgerufen werden. Beispielsweise antwortet das Auto mit bekannten Filmzitaten, sobald es ein bestimmtes Schlüsselwort über die Sprachsteuerung vernimmt. Hier geht eine Glättung des sinnlich erfahrbaren Äußeren unter Beibehaltung der Funktion mit einer Erweiterung des Überflusses am Gebrauchsgegenstand einher.

Ein solcher Überfluss ist der Theorie nach bereits in jedem Turing-vollständigen Computersystem angelegt. Anders als bei dem Schreibtisch von Loos, dessen stoffliche Grenzen sich noch erblicken und ertasten ließen, kann hier jederzeit eine überflüssige Zugabe von Innen erfolgen. Dabei gibt nur noch der vorhandene Arbeitsspeicher eine physische Grenze vor, die jederzeit über Cloud-Computing räumlich unabhängig ausgedehnt werden kann. Loos behält recht, wenn er die vergeudete Arbeitszeit anführt, die in derartige Ornamente fließt. Allerdings lassen sich digitale Ornamente ohne menschlichen Mehraufwand reproduzieren. Verschwendete Arbeitszeit wird dann zu verschwendeter Rechenarbeit.

Entwicklungen im maschinellen Lernen deuten zudem die ersten Schritte einer Selbstornamentierung digitaler Systeme an. Während Ornamente der klassischen generativen Gestaltung noch einen Kurator benötigen, sind künstliche neuronale Netze bereits in der Lage, die durch sie generierten Ornamente anhand gewisser Regeln automatisch zu selektieren. Die zur Ornamentierung erforderliche Gestaltungstechnik erfolgt dann indirekt. Eine autonome Selbstornamentierung digitaler Systeme hingegen stellt den intentionalen Ursprung des Ornaments in Frage. Eine solche Ornamentierung kann auch dann erfolgen, wenn sie durch keinen Rezipienten erfahren wird. In diesem Fall würde das Ornament Schillers Schönes in der Natur simulieren, das durch Zufall entdeckt werden kann.

Zurück zu Loos und dem Zeitalter des Arbeiters. Der Grund, weshalb der Arbeiter bei Loos kein neues Ornament hervorbringen kann, mag gerade dem Arbeitscharakter seiner Zeit geschuldet sein. Für Schiller sind Arbeit und Spiel auf unterschiedliche Beweggründe zurückzuführen. So beschreibt er, dass ein Tier arbeitet, sofern ein Mangel die Triebfeder seiner Tätigkeit ist und spielt, sobald ein Reichtum der Kraft seine Triebfeder darstellt.[96] Bei dem Menschen kommt der Spieltrieb auf, wenn seine doppelte Natur komplementär und harmonisch agiert, also keiner der beiden Grundtriebe einen Mangel erleidet. Wäre der Mensch vom Sinntrieb bestimmt, könnte sich kein Verlangen des Formtriebs nach Ornamenten entwickeln. Die umgekehrte Situation würde es ihm unmöglich machen, den schönen Schein, in den ihn das Ornament tauchen soll, sinnlich zu empfinden. Die Vorstellung des Menschen im Ungleichgewicht verdichtet sich noch in Schillers Gesellschaftskritik im 6. Brief. Hier ist der Mensch als Anteil des kunstreichen Uhrwerks ewig »nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt«, wodurch er nie die Harmonie seines Wesens entwickelt und bloß zu einem »Abdruck seines Geschäfts« wird.[97]

Diese Vereinzelung durch die Spezialisierung bedeutet für das Ornament, dass seine Grundbedingung nicht erfüllt ist, denn der Mensch lebt inmitten seiner Gesellschaft troglodytisch. Es herrschen somit widrige Bedingungen, um überhaupt ein Ornament hervorzubringen, geschweige denn ein Ornament, welches obendrein das Zeitalter repräsentieren soll. Ernst Jünger wiederholt Schillers Analyse 22 Jahre nach Loos, indem er die Schwierigkeit beschreibt, die sich für den Einzelnen dabei ergibt, das technische Zeitalter überhaupt auf einen Begriff zu bringen:

Die Aussagen, die der Zeitgenosse über die Technik zu machen weiß, liefern eine dürftige Ausbeute. Auffällig ist es im besonderen, daß der Techniker selbst seine Bestimmung nicht in ein Bild einzuzeichnen vermag, das das Leben in der Gesamtheit seiner Dimensionen erfaßt. Der Grund liegt darin, daß der Techniker wohl den speziellen Arbeitscharakter repräsentiert, daß ihm aber zum totalen Arbeitscharakter keine unmittelbare Beziehung gegeben ist.[98]

Dieses »zügellose Spezialistentum« verschließe die Augen des Einzelnen vor der Totalität. Daher muss man für Jünger etwas mehr als bloß Techniker sein, um ein wirkliches Verhältnis zum technischen Zeitalter aufzubauen. Habermas weist auf die kommunikative Rolle hin, die Schiller der Kunst beimisst. Die Kunst übernimmt die Funktion eines Mediums für die Erziehung zur politischen Freiheit. In Zeiten der Aufklärung fällt der Kunst zudem die Rolle der Religion als Stifterin eines ausdifferenzierten Gemeinsinns zu. Sie greift als allgemeine Form der Mitteilung in die intersubjektiven Beziehungen der Menschen ein. Der schöne Schein der Kunst wirkt auf beide Sphären der entzweiten menschlichen Natur und vereint sie im harmonischen Zusammenspiel.[99] So fällt gerade dem Schönen die schwierige Aufgabe zu, den Menschen über die Entfremdungen der Moderne hinweg zu tragen. Die Totalität einer überkomplexen Zeit zu erfassen, kann in der Praxis jedoch oft nur darüber erreicht werden, dass nicht der Begriff erweitert, sondern die Totalität wie in den Großideologien präzisiert wird. Für Schiller ist dieser Vorgang, der das Einzelne der Gestalt opfert, ein Hinweis auf den Typus des Barbaren.[100]

Im digitalen Zeitalter entzieht sich die unmittelbare Funktionsweise eines Teilbereichs der Technik meist auch dem Informationstechniker.[101] Stattdessen wird ein virtueller Funktionszusammenhang mittelbar erkennbar (Wenn ich hier drauf klicke “passiert” etwas). Hierbei nimmt die erfahrene Komplexität trotz einer Steigerung der tatsächlichen Komplexität – des Dings an sich – wieder ab. Im digitalen Raum bewegt sich der Einzelne zugleich troglodytisch und nomadisch. Ohne seine Privatsphäre zu verlassen, begibt er sich in die virtuelle Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit ist dabei kein einheitliches Ganzes, sondern besteht wiederum aus verschiedenen Sub-Öffentlichkeiten, von denen der digitale Bürger zumeist gleich an mehreren partizipiert. Daher kann das Ornament im digitalen Zeitalter ohne jeden Anspruch auf Totalität und Überzeitlichkeit als flüchtiges Ornament von verwobenen Subkulturen in Erscheinung treten.[102]

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2 – 1 Modus des Glatten

2 – 3 Moralische Gestaltung 

Schillerdenkmal Mannheim