»Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch sein, wenn meine Feder besser wäre.«

Modus des Glatten

Modus des Glatten

Im 16. Brief thematisiert Schiller kurz die kulturellen Effekte seiner beiden Modi des Schönen im Bezug auf unterschiedlich geprägte Zeitalter. Indem sowohl das schmelzende Schöne als auch das energetisch Erhabene jeweils wechselseitige Antworten im menschlichen Gemüt evozieren, ergeben sich für Schiller mitunter zweischneidige Konsequenzen: In Zeitaltern der Kraft und Fülle findet er das wahrhaft Große der Vorstellung gepaart mit dem Gigantesten und Abenteuerlichen vor. Gleichzeitig tritt die erhabene Gesinnung mit den schauderhaftesten Ausbrüchen der Leidenschaft auf. In Zeitaltern der Regel und Form sieht er die Natur eben so oft unterdrückt wie beherrscht und in gleichem Maß beleidigt wie übertroffen.[62]

Ähnliche Überlegungen finden sich im 10. Brief. Hier macht Schiller die Beobachtung, dass das Schöne historisch oftmals gerade nicht mit der Freiheit einherzugehen scheint. So habe sich das goldene Zeitalter der Künste[63] in Griechenland erst mit dem Ende der Unabhängigkeit von Athen und Sparta wirklich entwickelt. Auch die arabische Kultur sei erst nach der Eroberung durch die Dynastie der Abbasiden aufgeblüht. Zuletzt führt er die italienische Renaissance auf die wachsende Macht der Mediceer (Medici) zurück. Auf sein eigenes Zeitalter will Schiller nicht genauer eingehen doch treffe hier das gleiche zu: »Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsre Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen und daß die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet.«[64] Den Überfluss des gotischen Stil wiederum bringt er im 26. Brief in die Nähe des bedürftigen Scheins.

Für Schiller ist diese Verbindung jedoch nicht determiniert, so könne die erschlaffende Wirkung des unhinterfragt schmelzenden Schönen zwar die Tyrannis fördern, jedoch geht es ihm nicht darum, den Grad der Kunst auch in der Zukunft als Barometer der Freiheit zu gebrauchen. Diese Bemerkungen werfen dennoch die Frage nach dem Zustand des Schönen in unserer eigenen Zeit auf. Welche ästhetischen Qualitäten bestimmen das Wesen des digitalen Zeitalters? Und wie äußert sich eine solche Ästhetik in der Kultur? Byung-Chul Han kritisiert in seinem Text Die Errettung des Schönen eine vorherrschende Ästhetik des Glatten:

»Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. Warum finden wir heute das Glatte schön? Über die ästhetische Wirkung hinaus spiegelt es einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ wider. Es verkörpert nämlich die heutige Positivgesellschaft.«[65]

Verantwortlich für die Ästhetik des Glatten macht Han die Denker der frühen Neuzeit. Schillers Zeitgenossen waren es, die eine künstliche Aufteilung in das Schöne und das Erhabene vorgenommen hatten. Diese scharfe Trennung sei bei früheren Vorstellungen noch nicht erfolgt. So weist Han darauf hin, dass es bei Pseudo Longinos noch ein schmerzendes Schönes gab, in dem die Negativität des Schmerzes die Schönheit sogar vertieft. Und auch bei Platon sei das Schöne gerade in seiner Erhabenheit nicht zu übertreffen. Die neuzeitlichen Denker, besonders Kant und Burke, waren dazu übergegangen, das Kunstschöne, ausgehend von der Erfahrung des Subjekts, als Gegenstand des Wohlgefallens mit einer reinen Positivität aufzuladen. Hierbei hatte man es brutal vom Erhabenen – das zunächst noch eine deutliche Negativität verströmt – isoliert.[66] Obwohl Schiller eine solche Aufteilung freilich selbst betreibt, könnte er hier durchaus folgen. Geht es ihm doch darum, beide Aspekte im Idealschönen wieder zu versöhnen.

Im digitalen Zeitalter äußert sich das Glatte für Han, nicht allein in der Gestaltung der oftmals abgerundeten Mobiltelefone. Auch der digitale Austausch verläuft ihm zu glatt, da jede Negativität ein Hindernis für die beschleunigte Kommunikation darstellt.[67] Das Digitalschönen verbanne die Alterität des Anderen, wodurch sich der Rezipient in eine autoerotische Innerlichkeit stürze.[68] Diese Distanz sei auch dadurch gefährdet, wenn beispielsweise der Touchscreen zur ständigen Interaktion und Berührung auffordert. Hinzu komme ein pornografischer Charakter des Informationszeitalters. Informationen seien ihrem Wesen nach transparent und ließen keine Verhüllung zu. Für Han ist der gläserne Kubus des Flagship Stores von Apple in New York als Tempel der Transparenz das architektonische Gegenbild der Kaaba zu Mekka. Der Apple-Kubus suggeriere zwar Freiheit und grenzenlose Kommunikation, doch verkörpere er in Wirklichkeit die »gnadenlose Herrschaft der Information«.[69] Das Schöne gründet seinen Schein jedoch gerade auf einer gewissen Opazität und Unenthüllbarkeit.[70]

Demgegenüber stellt Han das Erhabene. Mitunter auch im Gewand von Adornos Naturschönem[71] hat das Erhabene die Aufgabe, den Menschen zu erschüttern, ihm das ganz Andere vor Augen zu führen, und ihn so aus seiner Gefangenschaft in sich selbst zu befreien. Weiter soll das Erhabene die Verbindlichkeit des charakterlosen Glatten wiederherstellen, indem es dem Schönen einen tellurischen Einschlag gibt, der seine grenzenlose Konsumierbarkeit erschwert.[72] Han entwickelt den Begriff des Glatten in seinem Plädoyer für die Errettung des Schönen mehr assoziativ als systematisch, was eine Prüfung mit Anspruch auf Vollständigkeit erschwert. Dennoch lassen sich gewisse ineinander übergehende Eigenschaften fassen. Das Glatte ist Charakterlos: Es ist so beschaffen, dass es keinen Riss, keine Irritation, keine Eigenheit aufweist. Wechselt es seine Richtung, tut es dies nie abrupt, sondern in sanften Kurven. Das Glatte ist Wohlgefällig: Es ist auf eine behaglich sichere Weise gefällig und reproduziert den jeweils vorhandenen Geschmack seiner Zielgruppe algorithmisch, um erneut zu gefallen. Ihm fehlt zudem eine Tiefe, die den Betrachter verunsichern kann und ist daher oberflächlich. Das Glatte ist konsumierbar: Frei von jeder Differenz fordert es als pornografisches Erzeugnis zum ungehinderten Konsum auf. Sein Inhalt ist die bloße Information, aber nicht die Wahrheit, zu der wie bei Schiller die Erkenntnis über die Unterscheidung gehört. Da es auf einer reinen Einseitigkeit beruht, kann auch kein Eros aufkommen.

Wo Adolf Loos sich noch über ein »inniges ästhetisches Vergnügen«[73] freuen konnte, das ihm seine glatte, leicht gebogene und exakt gearbeitete Zigarettendose bescherte, sieht Han in der Ästhetik des Glatten ausschließlich Gefahren auf die Kultur zukommen. Loos kann als Adept des Glatten gegenübergestellt werden. Allerdings stellt für ihn gerade das Glatte eine gewisse Verbindlichkeit her, da es den authentischen Ausdruck des industriellen Zeitalters birgt. Ihm geht es hierbei vor allem um den Verzicht auf modische Ornamente, die das Werk nach kurzer Zeit wieder in die Nähe des Hässlichen rücken.

Auch Schiller steht einigen Aspekten des Glatten weniger feindselig gegenüber. In einem Brief an seinen Freund Körner vom 23. Februar 1793 zeichnet der Dichter zwei Linien auf; die erste bildet ein Zickzack-Muster, die andere verläuft wellenförmig.[74] Die erste Linie ändert ihre Richtung also abrupt (»ex abrupto«), die zweite unmerklich in sanften Zügen. Die unterschiedliche ästhetische Wirkung der beiden Linien muss sich für Schiller aus der Art erklären lassen, auf die sie die Richtungen wechseln. Denn für ihn steht fest, dass die Wellenlinie, sofern seine »Feder besser wäre« als schön erkennbar ist, wohingegen die Zickzacklinie nicht schön erscheint. Die ruckartige Bewegung der ersten Linie erzeugt beim Betrachter die Vorstellung, dass ihr Gewalt angetan wird. Die Welle hingegen scheint ihren Weg freiwillig und spielerisch zu unternehmen. Damit wird klar, dass das »Reich des Geschmacks ein Reich der Freiheit«[75] ist. Die Anmut liegt für Schiller gerade in der Freiheit der willkürlichen Bewegungen.[76]

Diese Anmut, die mit Schillers schmelzendem Schönen in Verbindung steht, weiß jedoch nicht jeder zu schätzen. Besonders der stofflich orientierte Mensch, in dem der Sachtrieb regiert, wird zunächst noch von gröberen Sinneseindrücken angezogen. Die Begierde des Sachtriebs reagiert vor allem auf das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bizarre; so heißt es im letzten Brief.[77] Die Liebe zum Unnatürlichen, Schrillen und Übertriebenen ist bei Susan Sontag der »Camp«. Campy beschreibt Sontag als eine effektheischende Ästhetik der Oberfläche. Besonders der sinnlich wahrnehmbare Stil wird hier »auf Kosten des Inhalts betont«.[78] Die Camp Ästhetik ist aus der heutigen Medienlandschaft kaum wegzudenken. Für Schiller soll in einem wahrhaft schönen Kunstwerk der Inhalt nichts, die Form aber alles tun. Denn wenn die Kunst nur durch den Inhalt Effekt macht, zeugt dies von einem formlosen Werk oder der Unfähigkeit des Betrachters, die Form zu erkennen.[79] Sontag meint mit dem Inhalt allerdings eher den intellektuellen Gehalt der Kunst. Für Schiller ist der Inhalt das behandelte Thema bzw. das Sujet, also das Spezifische.[80] Die Form eines Kunstwerks versteht er als Erscheinung der allgemeinen Gestalt.[81] Diese wird in der Aktivität des Denkens zur Idee, so weist ein spezifisches Kunstwerk, das die Form über den Inhalt stellt, auf ein Ideal hin. Das Denken wird wiederum erst in der freien Reflexion tätig, indem eine harmonische Erscheinung die Triebe ins Spiel bringt. Schiller wäre also wahrscheinlich kein Verfechter eines als überpointiert verstandenen Camps.

Das Überraschende und Schrille, das Menschen zur Interaktion und zum Weiterscrollen aufruft, aber auch das Verlockende, das versucht, die Vernunft zu überbrücken, ist im digitalen Zeitalter omnipräsent. Wenn beispielsweise im UX/UI- und Marketingbereich die Klickrate über eine möglichst auffällige Farbe und Positionierung der Schaltfläche optimiert werden soll oder die Gestaltung einer digitalen Werbeanzeige besonders gut zur Interaktion auffordert, spricht man von einer hohen Clickability oder Klickbarkeit. Im virtuellen Raum können jedoch auch das Erhabene und das Katastrophale glatt werden, wenn sie im digitalen Schein als Spektakel auftreten.[82] Für Schiller hingegen muss gerade das schmelzende Schöne durchaus gut konsumierbar sein. Dies erreicht es nicht durch knallige Effekte oder Irritation, sondern eine anmutige, freie und in gewisser Hinsicht auch glatte Form. In der ungestörten kontemplativen Auseinandersetzung kann der sinnlich und geistig ansprechende Zustand der ästhetischen Erfahrung aufkommen. Hier darf dann auch das Glatte seinen Beitrag leisten, sofern es eine Glätte der ästhetischen Distanz ist.[83]

1 – 4 Am Nullpunkt des schönen Scheins

2 – 2 Digitale Ornamente 

Schillerdenkmal Mannheim